Die Chinesen haben den Westen fleißiger studiert als der Westen China.
Die Kader der kommunistischen Partei Chinas kennen sowohl die positiven als auch die zerstörerischen Kräfte des kapitalistischen Marktes besser als viele Politiker und CEOs im Westen. Und sie setzen dieses Wissen konsequent und ausdauernd mit langfristigen Umsetzungsperspektiven ein.
Die dezentrale Bürgermeister-Ökonomie folgt dem Rahmen eines durchdachten, revolvierenden Fünfjahresplans mit fixen Nordsternen.
Die Koordination durch einen Plan im Westen und im Osten
Dazu nutzen die Chinesen sehr erfolgreich eine Methode, die in liberalen Demokratien zwar erfolgreich, aber verpönt ist: den Fünfjahresplan.
Der Fünfjahresplan ist vergleichbar mit einer Planungsrunde von Volkswagen.
Ausgehend von Absatzprognosen, welche auf externen Researchern beruhen, plant Volkswagen jedes Jahr aufs Neue den Absatz seiner Fahrzeuge und die Auslastung seiner Werke sowie die Aufträge an die Zulieferer. Dies geschieht jedes Mal für 5 Jahre im Voraus. Die Planung wird initiiert durch die Absatzprognose für Fahrzeuge weltweit: Wieviele mittlere SUVS zum Beispiel werden in Deutschland, Spanien, aber auch in China, Korea oder Brasilien abgesetzt? Wie groß wird der Marktanteil von Volkswagen, Audi, Škoda oder SEAT/Cupra in den lokalen Märkten und Segmenten sein?
Auf dieser Basis werden die Auslastung der Fertigungslinien geplant, Investitionen in Anlagen genehmigt, Lieferantenverträge abgeschlossen und der Personalbedarf geplant. An dieser Planung sind alle Abteilungen und Auslandsniederlassungen beteiligt. Und jedes Jahr im Herbst wird der konsolidierte Plan zur Absicherung der Volkswagen-Umsätze von mehr als 300 Mrd.€ weltweit (einschl. JVs) mit entsprechenden Investitionen und Kosten dem Aufsichtsrat zur Freigabe vorgelegt.
Während Volkswagen 74 dieser Planungsrunden durchgeführt hat, ist in China aktuell der 15. Fünfjahresplan in Vorbereitung – also etwa gleich lange Erfahrung. Der markante Unterschied ist der: Die VW-Planungsrunde wird nicht durch einen objektiven Absatzplan getriggert; der chinesische Fünfjahresplan wird von einer kleinen Gruppe rund um Präsident Xi initiiert.
Bei den Chinesen spielen lange Zeitperspektiven eine entscheidende Rolle. Doch auch diese Gruppe produziert den Plan nicht auf einem weißen Blatt Diktator-Papier. Genauso unwahrscheinlich ist es, dass sie sich an ein Flipchart stellen und „brainstormen“.
Genau wie der aktuelle CEO von Volkswagen mit der Planung für einen solchen Megakonzern überfordert ist, gibt es keinen Menschen auf der Welt, der über die Intelligenz verfügt, eine hochkomplexe, hochgradig arbeitsteilige 1,4-Milliarden-Menschen-Gesellschaft zu organisieren und über Jahrzehnte wachsen zu lassen. Und die Planung für Städte, die Industrien, die Logistiknetzwerke, den Außenhandel, Bildung, Gesundheit und Sicherheit sowie Wissenschaft und Kultur in einen umfassenden Plan zu konsolidieren.
„Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit."
Diese Entwicklung des Fünfjahresplanes muss einem fein austarierten Prozess folgen, um relevante Informationen zu sammeln, zu filtern und zu konsolidieren, zu analysieren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Diese Planung ist aufwändig, kostet sehr viel Zeit und Disziplin.
Jeder durchdachte Plan ist Ergebnis einer tiefgreifenden Analyse und eines tiefen Verständnisses von Zusammenhängen. Die Spitze um Xi kann also nur die Schlussfolgerungen aus Vorarbeiten aus dem gesamten Land zusammentragen, verdichten und autorisieren in Form von Entscheidungen.
In dem Plan geht es nicht nur um die kommenden 5 Jahre.
Das Ergebnis des Planungsprozesses ist eine strategische Entwicklung der Meganation mit 1,4 Milliarden Menschen über Dekaden – langfristig, koordiniert, balanciert, kontinuierlich. Die Chinesen koordinieren sich. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Chinesen die größte Menschengruppe, die bedeutendste Kultur der Gegenwart sind, die gemeinsamen Prinzipien und einem gemeinsamen, umfassend fein austarierten Plan folgen. Befeuert von der Idee, den persönlichen Wohlstand und Status sowie den Lebensstil der Familie signifikant zu verbessern. So, wie es Deng versprochen hatte.
Das ist das Geheimnis hinter dem enormen Aufstieg Chinas als Wirtschaftsnation und als globale Supermacht.
China kommt zurück auf seinen Platz in der Welt.
Doch die Chinesen schauen auf diese Entwicklung anders: China gewinnt durch koordiniertes Handeln die Position in der Welt zurück, die es nach der einsetzenden Kolonialisierung durch den Westen verloren hatte: Das historische Bruttoinlandsprodukt war das größte der Welt – bis zum ersten Opiumkrieg (1839 bis 1842), mit dem sich Großbritannien den Zugang zum chinesischen Markt erzwang und der das „Jahrhundert der Demütigung” für die Chinesen eröffnete. Erst durch die Öffnungspolitik von Deng Xiaoping (邓小平) wurde Marktwirtschaft Ende der 1980er Jahre in China möglich.

Doch Deng war gleichzeitig Vorsitzender der KP Chinas - und so wurde Marktwirtschaft mit Planwirtschaft gekreuzt. Ähnlich wie bei Volkswagen. Das Ergebnis war ein fantastischer wirtschaftlicher, technischer und machtpolitischer Aufstieg in den vergangenen 35 Jahren. Dies führte dazu, dass 800 bis 900 Millionen Chinesen aus der Armut befreit wurden und das Land bereits heute schon zur größten Volkswirtschaft (in Kaufkraftparität) aufgestiegen ist. Zudem kann China mit BRICS die wirtschaftliche und politische Abstimmung im Globalen Süden organisieren und dominieren.
Die wirtschaftliche Substanz Chinas war also historisch immer vorhanden: Land, Bevölkerung, Kultur, Bodenschätze und vieles mehr. Für ein Jahrhundert fehlte die Entwicklung bei Bildung, Forschung und Infrastruktur.
Und erst jetzt kommt das wirtschaftliche Potenzial Chinas wieder zum Tragen. Durch externe Einflussnahme hatte China für knapp ein Jahrhundert seinen Kurs und seine Struktur verloren. Die externen Mächte hatten China die Richtung, die Strategie und den Plan genommen. Und das führte zu erniedrigender Armut und gewaltsamen Aufständen, wodurch China als Nation die Geschicke des Landes wieder selbst in die Hand genommen hat.
„Strategische Nordsterne“ sind das Rückgrat der Planung.
Kennen Sie Li Qiang (李强)?
Er ist Ministerpräsident des Staatsrates. Er ist quasi der Bundeskanzler, leitet also das Kabinett und alle Ministerien und vertritt das Land nach außen. Er berichtet an den Nationalkongress. Der Volkskongress ist das verfassungsgebende Organ Chinas, also das Parlament. Das funktioniert natürlich anders als in der parlamentarischen Demokratie. Das sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt.
Am 5. März 2025 hat er den Tätigkeitsbericht der Regierung dem Nationalkongress vorgestellt. Dieser ist im Internet frei verfügbar. Auf Deutsch sind dies 53 Seiten. Bei normaler Vortragsgeschwindigkeit sind das 2 Stunden Rede. Man stelle sich vor, wie die Funktionäre einnicken. Doch das auch nur, wenn sie den Bericht vorher studiert hatten.
Denn der Bericht hat es in sich.
Li Qiang berichtet von den Zukunftsindustrien. Das sind die Industrien, die von Investitionen profitieren werden und an denen sich die Gesetzgebung orientieren wird. Das sind die Nordsterne dieses und der folgenden Fünfjahrespläne. Natürlich gehören KI und Quantencomputer dazu. Aber was haben Tiefseeforschung und Niedrigflugwirtschaft für Auswirkungen auf Chinas Fünfjahresplan?
Darüber werden wir in einem der kommenden Newsletter berichten.