SALN #31 Prof Pfeiffer Meme Autoindustrie

SALN #32 – Prof. Sabine Pfeiffer – Realitätsferne Memes behindern Anpassung.

Interviews·Research

Lesezeit: 17 Minuten

Die deutsche Autoindustrie ist unter starkem Druck. Der Umbau geht zu langsam, es läge am Festhalten an Besitzständen und mangelnder Veränderungsbereitschaft.

Stimmt diese doch recht simple Erklärung, und warum ändert sich trotzdem nichts?

Prof. Dr. Sabine Pfeifer hat die Tiefenbohrung bei Volkswagen gemacht und 100 Interviews durchgeführt, 5.400 Seiten Transkription analysiert. Unzählige Workshops fanden statt. 3.500 Beschäftigte waren an der Studie beteiligt. Eine weltweit einmalige Datenbasis zum Thema „Automobile Transformation“: Was bedeutet die für die Beschäftigten, sind sie bereit, sich zu verändern, und wo hakt es wirklich.

Prof. Sabine Pfeiffer, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg

Guten Tag, Frau Professor Pfeiffer. Jeder hat einen Bezug zum Auto. Ihr Traumauto, wie sieht das aus?

Prof. Sabine Pfeiffer: Ich habe gar kein Auto. Was aber auch damit zu tun hat, dass ich mitten in der Stadt wohne und auch tatsächlich keins brauche. Wenn ich mir mal eins leihe, ist mein Lieblingsauto, der Fiat 500. Es gibt kaum ein Auto, dass es so schön geschafft hat, den Charme der alten Form in eine neue Form zu überführen. Eine kleine Rennsemmel.

Sie haben eine Studie über die Transformationsbereitschaft in der Automobilindustrie durchgeführt. Gibt es eine vergleichbare Studie? Und was sind die Ergebnisse?

Prof. Sabine Pfeiffer: Es gibt es in jüngster Zeit nichts Vergleichbares, was die Datenbasis und die Kürze der Zeit angeht, in der wir das alles generiert haben. Normalerweise braucht man für so ein Projekt drei Jahre.

Wir haben über ein Jahr daran gearbeitet und haben noch viel Material. Es hätte noch drei zusätzliche Berichte zu unserer Studie geben können. Wir planen auch noch einige Artikel über Spezialthemen zu schreiben. Da steckt noch einiges an Musik drin.

Es war ein großartiger Zugang, das muss ich sagen. Es ist nicht so üblich, dass Firmen einem so viel Zugang gewähren. Und es ging auch sehr schnell. Alles wurde schnell geklärt, Betriebsrat und Datenschutzfragen waren kein Problem. Sonst hätten wir das in der kurzen Zeit nicht schaffen können.

Das ist wahrscheinlich die umfangreichste und tiefgründigste Studie zu diesem Thema. Was folgt aus der sogenannten doppelten Transformation für die Beschäftigten in der Automobilindustrie? Man kann das immer sagen, Volkswagen sei eine eigene Welt.  Andererseits lassen sich viele Dinge auf die Branche insgesamt verallgemeinern. Auch wenn jeder OEM glaubt, sehr eigen zu sein, entdeckt man bei Forschung in verschiedenen Unternehmen mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede.

Fiat 500 (2020)

Was sind die überraschendsten Ergebnisse aus Ihrer Sicht?

Prof. Sabine Pfeiffer: Das Überraschendste ist, dass viele Menschen zur digitalen Transformation sagen: „Das fühlt sich gar nicht wie eine Transformation an.“ „Das geht alles viel zu langsam.“

Viele haben gesagt, dass es ihnen zu langsam geht. „Privat bin ich viel digitaler unterwegs als am Arbeitsplatz.“ Das Bild ist ja immer noch so, als käme jetzt die große Welle der Digitalisierung auf Beschäftigte, die vom Internet vorher noch nichts gehört haben und jetzt ängstlich und verstört sind.

Auch in der Wissenschaft, in den Medien oder im Management ist dieses Bild vorherrschend.

Ich war heute erst auf einer Tagung, wo es mal wieder um die digitale Transformation ging. Und dann saß wirklich wieder jemand auf dem Podium, der gemeint hat, wenn man dann Beschäftigten ein Tablet an die Hand gibt, dann denken die, das sei was, wo man die Kaffeetasse draufstelle. Wenn man so etwas von jemand aus dem Management im Jahr 2023 hört, fragt man sich schon: In welcher Welt leben Menschen, die solche Aussagen treffen? Weil natürlich die meisten Beschäftigten – und das wissen wir auch aus den privaten Nutzungszahlen – schon längst in der digitalen Welt angekommen sind.

Die Kollegen in der Autoindustrie arbeiten jeden Tag mit Technologie, sei es im Büro oder in der Fertigung und Logistik. Ohne Technologie wäre dies nicht möglich. Die Autoindustrie ist in vielen Bereichen führend.

Prof. Sabine Pfeiffer:  Genau das meine ich mit realitätsverzerrenden Memes.

In der Diskussion um Transformation höre ich häufig die Aussage, viele Menschen glaubten, ein einmal erlernter Beruf bleibe bis zum Ruhestand unverändert. Dabei ist doch schon seit Langem für die meisten Beschäftigten ständiger Wandel und damit lebenslanges Lernen Normalität.

Wo auch immer ich Interviews führe, zeigt sich: Fast überall ändert sich ständig etwas. In unseren Studien fragen wir die Leute immer direkt, was sich in den letzten Jahren an ihrem Arbeitsplatz geändert hat. Dann erzählen sie oft eine halbe Stunde lang von den vielfältigen und teils dramatischen Veränderungen, die stattgefunden haben.

Es ist ja nicht so, dass von den 50er Jahren bis zur Elektromobilität, nichts passiert wäre, sondern es passiert ständig was: Produktwechsel, Märkte ändern sich, Kundenwünsche ändern sich, technische Möglichkeiten ändern sich. Die Digitalisierung kommt dazu und auch nicht erst seit gestern. Das ist die Standarderfahrung der breiten Masse der Beschäftigten.

Sehr gerne aber wird dieses Meme über die angebliche Neuigkeit lebenslangen Lernens mit der Annahme verkoppelt, Beschäftigte hätten Angst vorm Lernen oder seien unfähig, sich wieder auf Lernen einzulassen.

Deswegen haben wir konkret abgefragt: Welche Hürden, welche konkreten Ängste und Widerstände gibt es genau?

Was wir aber nicht fanden, waren Angst und Verzagtheit in Bezug auf die eigene Veränderung, aber zwei größere Hürden in Bezug auf die Teilnahme an größeren Weiterbildungen:

Zum einen ist es die Vereinbarkeit einer Weiterbildung mit dem Privatleben. Menschen befinden sich in einem bestimmten Lebensalter, wenn sie erwägen, eine umfassende Weiterbildung zu machen oder eine berufliche Neuorientierung anzustreben. Es sind meist Menschen, die bereits im Berufsleben stark eingebunden sind, möglicherweise in erste Führungsrollen hineinwachsen (wollen) und gleichzeitig eine Familie gründen. Diese Personen müssen vielleicht sowohl die Betreuung älterer Familienmitglieder als auch die Erziehung ihrer Kinder bewältigen. Daher stellt sich die wichtige Frage, wie man diese verschiedenen Verantwortlichkeiten miteinander in Einklang bringen kann.

Der zweite Aspekt ist eine persönliche Nutzenbetrachtung. Wenn ich mich einer Veränderung unterziehe, die unweigerlich längere Zeit stark mein Privatleben beeinflusst, möchte ich die Gewissheit haben, dass der zeitliche Aufwand sich lohnt.

Und dabei geht es nicht nur um den finanziellen Aspekt. Das zeigen unsere Daten. Stattdessen ist es wichtiger, dass sich die Anstrengung in Form einer angemessenen und zukunftsträchtigen Position auszahlt. Es soll kein Sackgassen-Job sein, bei dem ich nach zwei Jahren erneut vor der Entscheidung stehe, eine weitere große Weiterbildung oder Umorientierung zu beginnen. Die Investition soll sich auch in dem Sinne lohnen, dass die Arbeit spannend und erfüllend ist, also Spaß macht und herausfordert.

Ältere Beschäftigte berichten Jüngeren häufig, basierend auf ihrer Erfahrung mit Techniker- oder Meisterkursen, dass umfassende Weiterbildungen nicht unbedingt zu besseren Karrierechancen führen. Einige der Befragten haben sogar beide Abschlüsse erworben, was einen beträchtlichen Aufwand bedeutet. Dennoch konnten sie keine verbesserten beruflichen Aussichten erzielen. Kein Wunder, dass solche Erfahrungen dazu führen können, jüngeren Kollegen abzuraten, sich auf langwierige Fortbildungen einzulassen, die ihnen eventuell keinen beruflichen Nutzen bringen.

Leider ist diese Erfahrung nicht ungewöhnlich und hat sich in der Kultur verfestigt. Es herrscht häufig die Ansicht, dass Weiterbildung nicht zwangsläufig zu einem interessanteren oder sichereren oder zukunftsfähigen Job führt.

Die Aussage spiegelt sowohl positive als auch negative Elemente wider. Auf der positiven Seite steht die Offenheit gegenüber digitaler Transformation und die Bereitschaft zur Weiterbildung. Auf der negativen Seite steht allerdings die Kluft zwischen den “unterkomplexen” und oft realitätsfremden Vorstellungen über die Transformation und der tatsächlichen Erfahrung der Menschen. Diese verzerrte Wahrnehmung stellt ein Hindernis für die Transformation dar.

Prof. Sabine Pfeiffer: Also das ist tatsächlich nicht so eine gute Nachricht. Und das lässt mich manchmal etwas ratlos.

Wir haben beispielsweise untersucht, ob Personen Angst vor dem Lernen haben, ob sie Bedenken haben, sich erneut Prüfungssituationen zu stellen, oder ob sie befürchten, mental nicht mithalten zu können. Dabei stellten wir fest, dass diese Ängste und Sorgen insgesamt sehr gering sind.

Ich beobachte – und das ist kein für Volkswagen spezifisches Phänomen –, dass es in jeder Branche, bei jeder Interaktion mit Entscheidungsträgern, sei es in der Politik, den Medien oder Unternehmen, immer wieder zu bestimmten Zuschreibungen kommt. Es wird oft angenommen, dass Menschen sich nicht verändern oder weiterbilden wollen und daher quasi dazu gezwungen werden müssen, gegen ihren eigentlichen Willen.

Auch besteht die Annahme, dass Arbeitnehmer große Ängste bezüglich der bevorstehenden Veränderungen haben. Doch wenn wir in unserer Forschung mit den Betroffenen sprechen, bestätigt sich dies nicht in diesem Maße.

Es gibt eine gewisse Skepsis und manchmal Kritik an verzögerten strategischen Entscheidungen der Unternehmensführung. Auch die Sorge, dass technologische Entwicklungen zu Jobverlusten führen könnten, ist präsent. Aber das wird eher als normaler Teil der Erfahrungen in der Branche angesehen, da die Beschäftigten wissen, dass Arbeitsplätze wegfallen können, und dies im Standortwettbewerb oder bei Verlagerung ja immer wieder in der Branche erlebt haben.

Das bedeutet jedoch nicht, dass in dieser Branche automatisch Arbeitslosigkeit droht. Dies ist nicht in jeder Branche der Fall, aber in der Automobilindustrie mit ihren starken Interessenvertretungen ist es üblich, dass man eine andere Arbeit findet. Jobabbau führt nicht dazu, dass die Beschäftigten in eine Schockstarre verfallen und nicht mehr weiterwissen. Im Gegenteil, viele sind sehr aktiv darin, ihren eigenen Weg zu finden und sich intern auf neue Positionen zu bewerben.

Wir haben festgestellt, dass besonders diejenigen, die durchschnittlich schon lange im Unternehmen sind, oft nur für kurze Zeit in ihrer aktuellen Tätigkeit verweilen. Dies wird in der Arbeitsmarktstatistik normalerweise nicht erfasst. Dort wird lediglich gefragt, wie lange jemand schon in der aktuellen Firma ist. Gerade in der Automobilindustrie, besonders bei großen Konzernen, ist es üblich, dass sich die Positionen und die Inhalte der Tätigkeiten häufig ändern. Das, was man vielleicht vor fünf Jahren gemacht hat, kann sich bereits komplett verändert haben. Solche Dynamiken werden in der klassischen Arbeitsmarktforschung oft nicht berücksichtigt.

In unserer Umfrage haben wir festgestellt, dass die Beschäftigten sehr mobil sind. Sie bewerben sich intern um neue Positionen, informieren sich über Weiterbildungsmöglichkeiten und haben teilweise an Weiterbildungen teilgenommen. Es gibt also viel Bewegung und Aktivität unter den Angestellten. Daher gibt es eigentlich keinen Grund für das Management, sich übermäßige Sorgen zu machen.

Die eigentliche Frage ist, warum das Management sich dennoch ständig Sorgen macht. Darüber kann man nur spekulieren.

Lassen Sie uns spekulieren. Was kann man mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen als Führungskraft machen?

Prof. Sabine Pfeiffer: Als Führungskraft sollte ich sagen: “Das ist ja super! Die Leute sind ja viel beweglicher, offener, zukunftsorientierter, transformationsaffiner als ich mir das gedacht habe. Dann können wir ja loslegen. Dann muss ich mir diese Sorgen nicht mehr machen.”

Andererseits könnte man sich eigentlich als Führungskraft fragen: “Warum brauche ich dazu eine Studie?“ Hätte ich das nicht selbst merken können? Zumindest für meinen Bereich, für den ich verantwortlich bin?

Meine Hypothese lautet: Es handelt sich um eine Art Immunisierung. Wenn die eigenen Transformationsstrategien, die man in seiner Abteilung implementieren möchte, und die dafür erdachten Maßnahmen letztendlich nicht erfolgreich sind, aus welchen Gründen auch immer, dann hat man bereits im Voraus einen Schuldigen: Es waren die unflexiblen Beschäftigten.

Ich würde sogar behaupten, selbst wenn die Beschäftigte unbeweglich wären – was wir allerdings zeigen konnten, dass sie es nicht sind –, liegt es dennoch in der Verantwortung der Führungskräfte, mit dem vorhandenen Human Capital die Transformation zu gestalten. Statt darüber zu klagen, dass man angeblich die falschen Leute mit den falschen Qualifikationen, Einstellungen oder Ängsten hat, sollte überlegt werden, wie man mit den vorhandenen Ressourcen arbeiten kann.

Insofern können wir den Führungskräften die Botschaft übermitteln, sich zu entspannen. Die Beschäftigten, die sie haben, sind nicht das Problem. Das ist eigentlich eine positive Nachricht.

In Ihrem Bericht wurden zahlreiche Vorschläge im Anhang dargelegt. Besonders interessant ist der Vorschlag der “Departments of Transition”. Können Sie dieses Konzept und seine Bedeutung erläutern?

Prof. Sabine Pfeiffer: In vielen Unternehmen, nicht nur bei Volkswagen, neigt das Management dazu, neue Entwicklungen wie Elektromobilität stark zu fördern und großzügig mit Ressourcen zu unterstützen.

Es besteht eine hohe Bereitschaft, externe Beschäftigte mit neuen Qualifikationen für diese Bereiche einzustellen, sodass an Ressourcen kein Mangel herrscht. Auf der anderen Seite steht die “alte Welt”, die mit dem gegenteiligen Problem konfrontiert ist: weniger Ressourcen, schleichender Personalabbau und die Neigung, offene Stellen nicht neu zu besetzen, da diese Bereiche als überholt oder auslaufend angesehen werden.

Diese Aufteilung in zwei Welten – die neue und die alte – ist jedoch eine unterkomplexe, übermäßig vereinfachte Sichtweise. In einem Konzern dieser Größe gibt es viele Bereiche, die unabhängig von der Art der Mobilität weiterlaufen werden, wie beispielsweise die Kantine. Es gibt also zahlreiche Abteilungen, die von dieser Zweiteilung unberührt bleiben und weiterhin ihre Funktionen erfüllen.

In Unternehmen gibt es Bereiche, deren Aufgaben stabil bleiben, unabhängig von neuen Trends. Aber es existieren auch Abteilungen, die, zumindest in einer Übergangsphase, sowohl alte als auch neue Technologien betreuen müssen. Ein typisches Beispiel ist das Engineering, wo Beschäftigte für die Verbrennerwelt und gleichzeitig an Elektromobilität arbeiten, was eine doppelte Belastung bedeutet. Aus nicht ganz ersichtlichen Gründen werden diese Beschäftigten teils jedoch häufig dem “alten” Bereich zugewiesen, was zu verschiedenen Problemen führt. Denn daran hängen Entscheidungen über Ressourcen: Wer dem „alten“ Bereich zugeordnet ist, darf oft nicht mehr auf Messen oder Tagungen fahren und vor allem: Beschäftigte, die in Rente gehen oder wechseln, werden nicht ersetzt. Man hat dann also die Situation: einerseits doppelter Workload (weil Engineering für beide Welten gleichzeitig), andererseits ein schleichender Personalabbau in solchen Teams. Diese Situation führt nachvollziehbarerweise dazu, dass gerade die Jüngeren versuchen, woanders hinzuwechseln. Das aber verschärft die Situation in den Alt-und-Neu-Bereichen noch mehr.

Unsere Empfehlung war die Schaffung von „Departments of Transition“ (Abteilungen im Übergang), um speziell den Bedürfnissen jener Bereiche gerecht zu werden, die sowohl für die alte als auch für die neue Technologie arbeiten.

Diese Abteilungen könnten in der Übergangsphase sogar besondere Ressourcen benötigen.

Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung hatten die betroffenen Bereiche ihre Fehlzuordnung und deren negative Folgen für Beschäftigte und letztlich auch für das Unternehmen und die Transformation, bereits an die Unternehmensleitung gemeldet.

Es gab damals aber wenig Bereitschaft der Unternehmensleitung, auf die von Beschäftigten, operativen Führungskräften und Betriebsräten dieser Bereiche nach oben kommunizierten Probleme einzugehen. Ein Phänomen, das auch in anderen Unternehmen und in der Politik zu beobachten ist, wo große Veränderungen oft nur durch finanzielle Mittel und Appelle an das richtige Mindset angegangen werden, statt sich ernsthaft mit den notwendigen strukturellen Änderungen auseinanderzusetzen.

In unserer Studie haben wir Bereiche identifiziert, in denen zu wenig darüber nachgedacht wurde, welche Strukturen für eine Übergangsphase von vielleicht drei bis fünf Jahren benötigt werden. Sobald der “Transformationsmoment“ gewuppt ist, lässt sich dann ja wieder zu einem weniger dramatischen Wandel übergehen.

Während dieser Übergangsphase sollten die aktuellen Prozesse und Strukturen kritisch hinterfragt werden. Es bedarf einer erhöhten Sensibilität im Management, um auf Signale von unten zu reagieren, wenn Mitarbeiter aufzeigen, dass etwas nicht passt. Strukturelle und prozessuale Anpassungen müssen von der Unternehmensführung vorgenommen werden.

Im oberen Management besteht oft die Tendenz, sich auf ausgerufene Strategien zu verlassen und zu erwarten, dass Mitarbeiter ohne Beschwerden folgen. Dies führt dazu, dass Feedback von der Basis nicht ausreichend beachtet wird. Ein sensibleres und offeneres Reagieren auf dieses Feedback wäre vorteilhafter.

Einfache Instruktion, einfache Erklärung und Probleme klar zu benennen sind “Management 101“. Und jetzt stellen wir fest, dass die Erklärungsmuster im Management teilweise „unterkomplex“ für ein Gebilde wie Volkswagen sind.

Ja, obwohl ich es selbst nicht genau so formuliert hätte, stimme ich Ihrer Aussage zu. Der Grund dafür ist, dass es in verschiedenen Bereichen wie Gesellschaft, Politik, Medien und Management tatsächlich eine Tendenz zur Übersimplifizierung gibt.

Eine einfache, eingängige Vision, eine schnell verständliche Strategie und etwas Storytelling werden oft verwendet werden, um komplexe Themen zu bearbeiten.

Vielleicht sollten wir jedoch anerkennen, dass die Welt, die wir uns geschaffen haben, äußerst komplex ist. Während normaler, inkrementeller Veränderungen mögen die vereinfachenden Erklärungen ausreichen, um mit dieser Komplexität umzugehen. Doch die Komplexität zum Beispiel bei Volkswagen ist so enorm, dass es fast ein Wunder ist, dass alles funktioniert und nicht zusammenbricht.

Bei größeren, umfassenden Veränderungen wäre es hilfreich, sich einzugestehen, dass die Situation extrem komplex ist und die Lösungen oft nicht einfach sind. Vielleicht sollten wir uns von den vereinfachten Botschaften, die wir üblicherweise kommunizieren, verabschieden.

Die Bedeutung von Fehlertoleranz, Feedbackschleifen und kontinuierlichen Verbesserungsprozessen im Rahmen komplexer Transformationsprozesse in Unternehmen ist nicht zu unterschätzen.

Es ist wichtig, diese Prozesse ernst zu nehmen und auch auf höheren Ebenen der Unternehmensführung zu reflektieren. Dies beinhaltet die Erkenntnis, dass auch Führungskräfte nicht unfehlbar sind und sich irren können, sowie die Komplexität des Umbauprozesses unterschätzen könnten. Daher ist es entscheidend, auf Signale aus den unteren Ebenen zu achten und möglicherweise sogar zusätzliche Prozesse zu implementieren, um sicherzustellen, dass diese Signale auch auf höheren Ebenen Gehör finden. Dies ermöglicht es, rechtzeitig Korrekturen vorzunehmen und flexibel auf Veränderungen zu reagieren, anstatt starr an simplen, schwarz-weißen Botschaften festzuhalten. Ein offener Dialog und eine gemeinsame Reflexion über mögliche Antworten sind gefragt, wobei man sich bewusst sein muss, dass auch diese Antworten nur vorläufig sein können und kontinuierlich hinterfragt und angepasst werden müssen.

Die wahre Herausforderung der Transformation liegt in der Erkenntnis, dass sie kein einfacher, linearer Prozess ist, sondern ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren, das Flexibilität, Offenheit für Feedback und die Bereitschaft, sich ständig anzupassen, erfordert.

Die Aussage, dass eine echte Transformation kein einfacher, linearer Prozess ist, sondern eine komplexe Herausforderung, die kontinuierliches Umdenken und Anpassen erfordert, ist zentral. Wenn Transformation wirklich einfach wäre, dann wäre sie keine Transformation, und die ganze aufgeregte Diskussion darüber wäre überflüssig. Transformation bedeutet, überholte Denkmuster zu überwinden. Ein oft zitiertes, aber in der aktuellen Diskussion seltener verwendetes Bild ist das des Umbaus eines Flugzeugs im Flug, was die Komplexität und die ständige Notwendigkeit zur Anpassung gut veranschaulicht.

In diesem Sinne sind Antworten auf Herausforderungen oft nur vorläufig und entwickeln sich durch Versuch und Irrtum weiter. Es erfordert die kontinuierliche Aufmerksamkeit aller Beteiligten und die Bereitschaft, bestehende Lösungen immer wieder zu hinterfragen und neu zu denken. Dies ist besonders in großen Unternehmen mit ihrer oft top-down orientierten Denkweise eine Herausforderung. Trotz aller Gespräche über Lean Management und ähnliche Ansätze herrscht häufig die Vorstellung, dass die von der Unternehmensleitung entwickelten Strategien bereits optimal sind. Jedoch muss, wie in einer Volkswagen-Werkskantine, das eigentliche “Gelingen” der Strategie erst in der Umsetzung erfolgen, wofür es viele “Köche” braucht , also die Mitwirkung und das Engagement aller Beteiligten.

Wenn ich ihre Worte höre, spüre ich Optimismus, denn offensichtlich liegt in der Substanz der untersuchten 130.000 Mitarbeiter ein enormes Potenzial an Können und Wissen.  Seit der Durchführung der Studie zwischen Sommer 2021 und Sommer 2022 hat sich bereits viel verändert. 

Würde man die Studie jetzt erneut durchführen, kämen sie zu anderen Ergebnissen?

Der angekündigte Stellenabbau bei CARIAD hat zweifellos einen signifikanten Einfluss, insbesondere im Kontext der von Ihnen erwähnten Studie und der Vorgängerstudie des Fraunhofer-Instituts. Letztere konzentrierte sich auf die Verschiebungen im Arbeitsmarkt, insbesondere auf die Bereiche, in denen Arbeitsplätze verloren gehen und neu entstehen, mit einem Fokus auf Felder wie Data Science, Künstliche Intelligenz, Softwareentwicklung im Automobilbereich, autonomes Fahren und Connected Cars. Diese Bereiche wurden als stark wachsend eingestuft, wobei ein Anstieg um 350% prognostiziert wurde. Dies führte zu der Annahme, dass hier der größte Bedarf und die größten Herausforderungen für Unternehmen liegen, insbesondere in Bezug auf die Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte.

Viele Mitarbeiter stellten sich die Frage, ob sie sich zu Data Scientists weiterbilden sollten, um ihre berufliche Zukunft zu sichern. Diese Perspektive wurde durch verschiedene Kommunikationskanäle verstärkt. Jetzt, mit den Entwicklungen bei CARIAD, erleben wir eine Art Realitätscheck, der diese Annahmen in Frage stellt und zeigt, dass die Transformation in der Automobilindustrie nicht so linear und vorhersehbar ist, wie ursprünglich angenommen.

Das bringt uns zurück zur Bedeutung der “positiven Substanz” in Unternehmen. Es wäre wünschenswert, diese Stärken zusammen mit den Entwicklungen und Herausforderungen im Bereich der Software und Digitalisierung ganzheitlich zu betrachten. Es scheint, als ob der bisherige, vielleicht etwas unkoordinierte Fokus auf Software und digitale Kompetenzen nun einer realistischeren Einschätzung weichen muss. Dies erfordert eine Neubewertung der Fähigkeiten und Ressourcen, die in Unternehmen vorhanden sind, und wie diese am besten für die zukünftigen Herausforderungen der Branche genutzt und weiterentwickelt werden können.

Den Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) haben wir nicht untersucht, jedoch in Feldern wie KI-Anwendungen, UX-Design und Cybersecurity. In diesen Bereichen blickt das Management, nicht nur in unserem Konzern, sondern auch weltweit, oft mit feuchten Augen auf das Silicon Valley und dessen Ansätze. Dann kommt man zu der Schlussfolgerung, wir Deutschen betreiben Over-Engineering, und wir sollten stattdessen das Prinzip “Good enough” verfolgen.

Was aus meiner Sicht für die deutsche Automobilindustrie besonders relevant ist, ist die Frage: Was sind unsere Stärken? Was sind die Dinge, in denen wir richtig gut sind? Welche Substanz haben wir? Und wie können wir diese Stärken effektiv mit neuen Entwicklungen im Softwarebereich kombinieren? Ich bin überzeugt, dass wir in der Softwareentwicklung sogar besser sein könnten als unsere Konkurrenten im Silicon Valley. Als Beispiel: In einem unserer Bereiche haben wir Interviews geführt. Die dort tätigen Personen, die meist nicht aus der Automobilindustrie, sondern aus akademischen Kreisen oder externen Bereichen kommen, setzen sich täglich mit Pair Programming auseinander.

In dieser Situation arbeiten zwei Personen zusammen am Programmieren, wobei eine entweder direkt oder virtuell die Arbeit der anderen überwacht und sicherstellt, dass der Code von guter Qualität ist. Dies stellt eine sehr luxuriöse Form des Arbeitens und Lernens dar. Jedoch, wenn man diese Mitarbeiter bezüglich der zukünftigen Entwicklung ihres Bereichs befragt – die Fraunhofer Studie sagt voraus, dass dieser Bereich um 350% wachsen wird – und wie sich die Arbeitsprozesse entsprechend anpassen müssten, herrscht oft Unklarheit. Die Frage, ob sie weiterhin den ganzen Tag Pair Programming betreiben werden, bleibt unbeantwortet.

Interessanterweise haben wir festgestellt, dass Mitarbeiter, die bereits eine Transformation durchlaufen haben, zum Beispiel durch eine Weiterbildung über die Fakultät 73, und in solchen Bereichen arbeiten, eine starke DNA für Prozessoptimierung mitbringen. Wir hatten beispielsweise einen Fall, in dem eine Person vom Shopfloor kommend diese Ausbildung absolviert hatte. Diese Person ist es gewohnt, Prozesse kontinuierlich zu hinterfragen und nach Möglichkeiten zu suchen, sie effizienter, robuster und somit technisch ausgereifter zu gestalten.

Dies führt zu einem gewissen Culture Clash: Einerseits gibt es diejenigen, die im Bereich der Softwareentwicklung mit einer eher lockeren Herangehensweise arbeiten, und andererseits diejenigen mit einer starken Neigung zur Prozessoptimierung. Diese Unterschiede in den Arbeitskulturen und -ansätzen innerhalb desselben Unternehmens können sowohl Herausforderungen als auch Chancen für die Organisation darstellen, insbesondere im Hinblick auf die Anpassung an die sich verändernden Anforderungen und das Wachstum in der Branche.

Die sind in ihrer Pair-Programming-Welt verhaftet und können sich kaum vorstellen, dass Arbeit auch anders organisiert werden könnte – eine Umstellung, die aus wirtschaftlichen Gründen früher oder später notwendig sein könnte. Denn es gibt die Kollegen aus der Fabrik, die frisch aus der Fakultät 73 kommen und in diesem neuen Bereich noch Erfahrungen sammeln müssen. Sie bringen zwar eine tiefgehende Kenntnis in der Prozessoptimierung aus der Automobilproduktion mit, können sich aber zunächst nicht sofort in ein harmonisches, synergetisches Arbeitsumfeld einfügen, was anfangs zu Irritationen führt.

Ich bin jedoch der Meinung, dass die Kombination dieser unterschiedlichen Stärken ein enormes Potenzial für die deutsche Automobilindustrie darstellen könnte. Besonders hervorzuheben ist, dass die produzierende Industrie in Deutschland, insbesondere auf dem Shopfloor, im internationalen Vergleich hochqualifizierte Mitarbeiter hat, viele davon mit Facharbeiterausbildung und umfassender Weiterbildung. Dies stellt einen Qualifikationsüberschuss dar, und diese Mitarbeiter sind es gewohnt, ständigen Wandel zu bewältigen und diesen in die Tat umzusetzen. Wenn es gelingt, diese verschiedenen Kompetenzen effektiv zu vereinen, könnte das einen wesentlichen Vorteil für die gesamte Autoindustrie bedeuten.

Frau Prof. Pfeiffer, Sie haben die Chance, einen Brief an die CEOs der deutschen Automobilwirtschaft zu schreiben. Was würden Sie reinschreiben?

Ich würde nicht nur einen Brief schreiben, sondern ihnen eine Selbstverpflichtung abnehmen, im nächsten Quartal an mindestens drei Tagen jeden Monat an einem normalen Arbeitsplatz in Ihrem Konzern zu verbringen.

Verbringen Sie dort jeweils acht Stunden, um wirklich zu sehen, zu erleben und zu verstehen, wie viel die Mitarbeiter leisten, über welche Fähigkeiten sie verfügen und wie komplex ihre Arbeitsanforderungen sind, die von außen oft so einfach erscheinen mögen. Indem Sie sich darauf einlassen und direkt mit den Mitarbeitern sprechen, gewinnen Sie Einblicke, die umfangreiche Studien nicht immer bieten können.

In Großkonzernen wie Ihrem ist es eine bekannte Situation: Wenn ein Vorstandsmitglied einen Standort am Shopfloor besucht, wird dies oft inszeniert, mit einer großen Entourage und wenig Möglichkeit für authentische Gespräche. Ich glaube, wenn Sie sich die Zeit nehmen würden, direkt und unverfälscht mit Ihren Mitarbeitern zu sprechen, würde das viel bewirken. Sie könnten die Substanz erkennen, die in Ihren Mitarbeitern steckt, und verstehen, was sie wirklich tun und wie komplex ihre Aufgaben sind. Dies könnte enorm hilfreich sein. Also statt nur einen Brief zu schreiben, sollten Sie sich selbst dazu verpflichten, sich wirklich auf diese Erfahrung einzulassen.

Frau Prof. Pfeiffer, herzlichen Dank für dieses erkenntnisreiche Gespräch.

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