Lesezeit: 8 Minuten
Die großen Namen wie BMW, Bosch und Audi gehören seit Jahrzehnten zu den beliebtesten Arbeitgebern in Deutschland. Doch nur 10,2% aller Studienanfänger in Deutschland waren laut Statistischem Bundesamt in einem ingenieurwissenschaftlichen Studiengang eingeschrieben. Ein Drittel davon waren Frauen.
Laufen wir in der deutschen Autoindustrie auf ein ähnliches Problem zu, wie in den 2000er Jahren in der deutschen Kernindustrie? Fehlt uns irgendwann der Ingenieursnachwuchs?
Diese Ausgabe möchte ich dem Thema widmen, wie man eine erfolgreiche Karriere in der Autoindustrie als Ingenieur machen kann.
Dazu spreche ich heute mit Dr.-Ing. Stefan Loth, dem ehemaligen Werkleiter des Stammwerkes von Volkswagen in Wolfsburg und danach Vorsitzender der Geschäftsführung bei Volkswagen Sachsen und seinerzeit verantwortlich für den Hochlauf der VW ID- und Audi Q4-Familie im Werk Zwickau. Wir kennen uns aus unserer gemeinsamen Zeit bei SEAT. Unter seiner Leitung wurden die Werke mehrfach mit verschiedenen Branchenpreisen ausgezeichnet.
Stefan, was ist Dein Traumauto?
Stefan Loth: Mein Traumauto – mein Leben lang – ist ein Porsche 911 Targa. Und wenn ich dann noch die Wahl habe, vorzugsweise ein Fahrzeug aus den 70er Jahren.
Ein Traumfahrzeug!
Wenn wir jetzt zehn Jahre zurückschauen (das war genau ein Jahr vor der Dieselkrise): Was hat sich konkret in der Produktionstechnik der Fabrik verändert?
Stefan Loth: Also am augenfälligsten ist natürlich, dass in der Automobilproduktion neue Elektrofahrzeuge eingerüstet wurden. Viele Produktionskapazitäten wurden auf Elektro- und Hybridtechnik umgestellt, ganze Linien wurden umgebaut. Und natürlich mussten die Mitarbeitenden auf die neue Technik geschult werden.
Es gibt aber noch weitere Punkte, die sich massiv geändert haben.
Nachhaltigkeit ist in den Fabriken sehr wichtig geworden. Dazu werden Verbräuche von Strom, Gas, Wasser genau analysiert und optimiert. Auch bei Verpackungen stellt man immer mehr um auf recyclingfähiges Material. Ziel sollte es sein, in naher Zukunft eine CO2–neutrale Produktion zu erreichen.
Der nächste große Block ist natürlich das Thema Digitalisierung und Industrie 4.0. Hier ist auch sehr viel passiert in den letzten zehn Jahren – und wir werden noch viele Themen zukünftig sehen.
Hast Du Beispiele zum Thema Digitalisierung und Industrie 4.0?
Stefan Loth: 3 Beispiele:
- Heute kommunizieren die Anlagen und Informationssysteme miteinander. Beispielsweise gibt es digitale Regelkreise, bei denen die aktuellen Ergebnisse und Maßnahmen aus Audits oder Abnahmen am Bandende in die Gewerke Karosseriebau, Lackiererei oder Montage zeitgleich zurückgespiegelt werden.
- Gleichzeitig hat sich die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine deutlich verbessert. Statt einfacher Fehlermeldungen zeigen aufwendige Graphikdisplays und KI, wo genau die Probleme im Fertigungsprozess sind.
- Die Fabriken sind vernetzt. Dadurch sind Onlinediagnosen möglich. Habe ich zum Beispiel einen Störfall an einer Anlage, helfen Spezialisten weltweit mithilfe ihres Online-Diagnosekastens den Instandhaltern vor Ort.
Zukünftig wird KI immer mehr in den Fabriken eingesetzt. Damit wird es irgendwann möglich sein, Störungs- oder Produktionsberichte automatisch auszuwerten.
Ich erinnere mich, dass wir an einem Projekt gearbeitet haben, in dem es um Tracking ging: Der Kunde bestellt sein Auto und wenn das Auto quasi im Karosseriebau aufgelegt wird, dann bekommt das eine Fahrgestellnummer, und ab dann kann ich das Auto in der Fabrik tracken. Und dann haben wir festgestellt, dass das enorm kompliziert ist und auch sehr kostenaufwendig. Woran liegt das?
Stefan Loth: Es gibt in einer Autofabrik grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Ich kann das zu bauende Fahrzeug dem Kunden bereits bei der Auflage im Karosseriebau (frühe Taufe) oder danach beim Einlauf in die Montage (späte Taufe) zuordnen. Eine frühe Taufe zwingt die Fabrik zu einer sehr stabilen Fahrweise, eine späte Taufe ermöglicht mehr Flexibilität in der Fertigung. Beispielsweise, wenn Materialengpässe entstehen. Zwischen diesen 2 Szenarien muss entschieden werden.
Die zweite Frage, die ich habe, kommt aus einem Interview. Da wurde gesagt, dass teilweise Meister als Mitarbeiter am Band arbeiteten. Es gibt nicht so viele Meisterpositionen wie Meister. Entspricht das deiner Erfahrung? Und ist das nicht ein Vorteil für die Digitalisierung der Fertigung?
Stefan Loth: Grundsätzlich hat eine Fabrik eine gewisse Anzahl von Meisterstellen, die idealerweise auch von Meisterinnen und Meistern besetzt werden. Je nach Fahrweise kann sich die Anzahl der Meisterstellen jedoch ändern. Gleichzeitig gehen Meisterinnen und Meister in Rente oder werden neue ausgebildet, so dass es sowohl zu Überhängen als auch zu Unterdeckungen kommen kann. Dies erfordert eine gute Personalsteuerung und Nachwuchsplanung.
Auf alle Fälle sollte angestrebt werden, dass Meisterinnen und Meister auf den richtigen Positionen arbeiten.
Wie viele Fahrzeuganläufe hast du in deiner Karriere gemacht?
Stefan Loth: Sehr viele! Zuletzt waren es bei Volkswagen Sachsen der Hochlauf vom VW ID4, danach der Anlauf vom Audi Q4 und Audi Q4 Sportback, Seat Born und ID5. Spontan fallen mir noch ein: In China der Sagitar, in Wolfsburg der Golf, Golf Variant, Tiguan und Seat Tarraco, bei Seat in Martorell der Audi Q3 und die gesamte MQB Leon Familie.
Das Qualifikationsniveau: Trifft das jetzt besonders für Deutschland zu? Wie ist es im gesamten Netzwerk?
Stefan Loth: Das Qualifizierungsniveau ist in Deutschland sehr hoch, weil in der industriellen Fertigung auch sehr viel Wert auf Ausbildung gelegt wird. Gehen wir in ausländische Standorte, an denen das Qualifizierungsniveau am Anfang nicht so hoch ist, machen wir umfangreiche Trainings- und Schulungsmaßnahmen, so dass die Menschen dort die Autos nach den gleichen Standards bauen können wie hier in Deutschland.
Digitalisierung, Industrie 4.0, die Anlagen, die miteinander kommunizieren, KI usw. – was alles auf uns zukommt, das kommt ja jetzt auch auf die Neueinsteiger, die neuen Ingenieure, welche die Leitung der Autoindustrie in wenigen Jahren übernehmen werden. Was sind die aus deiner Sicht wichtigen Aspekte, die gerade die jungen Kollegen lernen sollten?
Stefan Loth: Das Allerwichtigste ist Leidenschaft für den Ingenieurberuf und den Automobilbau. Ein guter Start ist immer der Abschluss eines Maschinenbau- oder Elektrotechnik-Studiums (oder Vergleichbares). Das ist die Eintrittskarte.
Den Rest lernt man eigentlich dann auch auf dem beruflichen Weg. Dazu zwei persönliche Hinweise:
Starte die Karriere in einem großartigen Unternehmen. Dies bietet sehr viele Entwicklungs- und interne Weiterbildungsmöglichkeiten und damit viel mehr Möglichkeiten und bessere Positionen in der Zukunft.
Nutze von Anfang an die Chance, wertvolle Kontakte zu knüpfen und Dein berufliches Netzwerk auszubauen.
In der Fabrik haben wir die vier Fertigungsstufen Presswerk, Karosseriebau, Lack und Montage. Wir haben Planung, Pilothalle, Instandhaltung, und vieles mehr. Was würdest du sagen, gibt es da einen Bereich, den jeder unbedingt mal gewesen sein sollte?
Stefan Loth: Aus meiner Sicht startet man idealerweise die Karriere nach dem Studium mit einer Meisterstelle in der Fertigung. So lernt man, wie man Mitarbeitende führt, wie man sie motiviert, wie man mit Abwesenheiten umgeht. Und man bekommt Feedback! Dabei ist der Bereich für die erste Stelle nicht wichtig.
Um Fertigungs- oder Werkleiter/-leiterin zu werden, lohnt es sich, vorher unterschiedliche Linienpositionen in der Fertigung einzunehmen, z. B. Führungskraft in der Montage. Dann versteht man die Abläufe und das Tagesgeschäft.
Wenn du auf deine Karriere zurückblickst, was sind die entscheidenden Ereignisse gewesen, die dich in deiner Karriere geformt haben, die dich nach vorne gebracht haben?
Stefan Loth: Es gab sicherlich eine Vielzahl entscheidender Ereignisse, die den Verlauf und die Entwicklung maßgeblich beeinflusst haben.
Ein Beispiel: Ich erinnere mich z. B. sehr gut am Anfang meiner Berufslaufbahn an einen Anlauf eines verbesserten Getriebes in einem Getriebewerk in England. Zu dem Zeitpunkt hatte ich kaum Anlauferfahrung, auch noch nicht das richtige englische Fachvokabular für die Shopfloor-Runden. Dank der Hilfe der Kolleginnen und Kollegen und des direkten Feedbacks des Werkleiters haben wir es doch hinbekommen.
Wenn das Feedback sehr direkt war – wie geht man damit um?
Stefan Loth: Das ist das Gute in der Fertigung. Jeden Tag sind die Karten neu gemischt. Das heißt: Mund abwischen, aus den Fehlern lernen. Und am nächsten Tag kann man sofort mit der Korrekturschleife beginnen.
Du hast die Autoindustrie mehrere Jahrzehnte begleitet. Wenn du jetzt einen Brief schreiben würdest als Außenstehender an die CEOs der deutschen Autoindustrie, auch der Zulieferer, ist da irgendwas, was du ihnen sagen würdest?
Stefan Loth: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich bin sicherlich nicht derjenige, der die Frage „allein“ beantworten kann. Ich habe daher diese Frage im Freundes- und Kollegenkreis diskutiert mit folgendem Ergebnis: Ein intensiver Fokus auf Bedienbarkeit, Konnektivität und digitale Dienste im Auto stärkt die Kundenbindung. Da ist noch sehr viel Potenzial!
Super Gespräch. Danke, Stefan.