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Derzeit gibt es wohl kein größeres Kopfzerbrechen in der Autoindustrie wie die Digitalisierung des Autos und seine Auswirkungen.
Von neuen Fahrzeugarchitekturen zur Einbindung des Autos ins Internet, über direkten Verbindung der Marketingabteilung des Herstellers mit dem Fahrer im Fahrzeug bis hin zum autonomen Fahren, verändert sich die Art und Weise, wie wir Autos designen, kaufen und fahren. Hier entstehen völlig neue Wissensgebiete, von deren Existenz wir vor wenigen Jahren noch nichts ahnten. Und wo Fachbücher noch gar nicht geschrieben wurden.
Wie nähert man sich heute einem solchen Gebiet? Wie wächst man zu einem Experten?
Um dieses besser zu verstehen, habe ich mit Tim Walter (LinkedIn) gesprochen. Er arbeitet im Konzernmarkting von Volkswagen und ist Web 3.0-Experte in der Autoindustrie.
Hallo Tim. Wie bist du zur Automobilindustrie gekommen? Gab es da einen Impuls?
Tim: Ich bin, wie viele andere, von Autos fasziniert. In den 80ern und 90ern waren wir stark geprägt von Autos, ähnlich wie die heutige Generation vielleicht vom iPhone oder einer bestimmten App. Auch Auto-Werbung fand ich spannend, weil dort die besten Stories erzählt wurden. Große Budgets flossen hinein, dort hörte man die beste Musik und man hat sich wirklich Mühe gegeben, um richtig was in Szene zu setzen.
Ich wollte immer das Coolste der Welt machen. Ich habe immer gerne fotografiert und während meines Studiums habe ich mit dem Filmen angefangen. Meine Projekte im Filmstudium waren eigentlich immer Autowerbespots.
Was für Autos hast du damals gefilmt?
Tim: Verschiedene, vom Porsche Boxster S, den ich von einem lokalen Händler bekam, bis hin zum Smart Roadster, den ich bei einer Autovermietung ausgeliehen habe. Damals habe ich in Australien studiert, da war ich der Außenseiter. Meine Professoren haben mich immer wieder gefragt, ob ich wirklich Werbespots machen möchte. Sie haben vorgeschlagen, ich sollte lieber Dokumentarfilme machen. Aber ich wollte Werbespots machen, weil ich Autos und Werbung spannender fand.
Früher wurde noch vielmehr Fernsehen geschaut. Hat sich Werbung mit YouTube und TikTok geändert?
Tim: Ja, definitiv. Heutzutage ist die Aufmerksamkeitsspanne kürzer. Früher gab uns die 30-Sekunden-Werbung die Chance, eine Geschichte zu erzählen. Heute sieht Werbung anders aus, aber wir haben auch neue technische Wege gefunden, um spannende Geschichten zu erzählen und eine Verbindung zum Kunden aufzubauen.
Heute bist Du anerkannter Experte für NFT und Web3 in der Autoindustrie. Was ist das genau, im Kontext der Automobilindustrie, und wie bist du darauf gekommen?
Tim: Web 3.0 ist der Überbegriff für alles, was nach Web 2 kommt. Die Blockchain ist eine neue Technologie, schlummert im Hintergrund und ermöglicht, einige Instanzen zu umgehen. Wenn wir über große Mediaplayer oder Gatekeeper sprechen, dann ist die Blockchain manchmal eine Instanz, die das umgeht. Das sehen wir beim Thema Kryprowährungen. Zum Beispiel können mit der Blockchain direkte Finanztransaktionen zwischen Personen ermöglicht werden, ohne dass eine Bank dazwischen ist. Mit dieser Technologie kommen auch Non-Fungible Tokens (NFTs) ins Spiel.
Letztlich streben wir an, digitales Eigentum zu schaffen, bei dem die Blockchain im Hintergrund, statt eines Gatekeepers, die Echtheit bestätigt.
Es ist spannend, dass wir nicht nur physische Produkte kaufen können, sondern auch digitale Güter. Und was besonders interessant ist, ist, dass diese digitalen Güter limitiert sein können. Du hast also nicht nur eine direkte Interaktion mit der Marke, sondern auch einen Feedback-Kanal. Aber jetzt werde ich schon wieder zu technisch…
Gibt es eine Website oder so, wo du sagen würdest, das ist ein gutes Beispiel für das, was du gerade erklärst?
Tim: Es gibt einige gute Medienseiten dazu, aber ich glaube, auf YouTube bist du gut aufgehoben. Besonders für Podcasts, weil es hilft, wenn man in das Thema einsteigen will. Man muss sich schon etwas tiefer mit den Begriffen befassen und da ist das Podcast-Format sehr hilfreich. Anthony Day, dem ich auf LinkedIn folge, erzählt sehr gut darüber, was Marken damit tun können.
Es ist überraschend, dass sich Automobilhersteller, für die du ja arbeitest, genau mit diesem Thema beschäftigen. Wie kann man sich das vorstellen? Wie wird das diskutiert? Was sind die Hauptanwendungsfälle?
Tim: Marken haben immer ein Interesse, beim Kunden relevant zu sein und möchten idealerweise direkt mit ihnen interagieren. Social Media hat sich verändert. Früher haben wir noch unsere Freunde gesehen, und heute sehen wir relativ viel Markenwerbung und anderen Content. Es ist eher eine Medienplattform geworden. Leute wollen sich aber austauschen. Sie haben Lust auf Communitys. Das sehen wir auch im realen Leben, zum Beispiel treffen sich Porsche- oder Motorradfahrer gerne am Wochenende und fahren gemeinsam in den Harz. Sie haben ein ähnliches Mindset, erleben eine tolle Zeit und wissen, dass sie Leute treffen, die genauso ticken. Im digitalen Bereich haben wir noch nicht den Schritt gemacht, eine wirkliche Community zu schaffen. Das funktioniert im Physischen alles schon sehr gut, und im Digitalen sind wir diesen Schritt noch nicht gegangen. Es gibt Chancen für Marken, aber auch für andere mögliche Communities, die man mit NFTs erkunden sollte. Kann Marketing das unterstützen?
Klingt für mich ein bisschen wie Autowerbung 4.0 im Jahr 2023. Also eine andere Form, oder?
Tim: Ja, das ist ein Teil vom Ganzen. Es kommt auf die Zielgruppe an. Für Web 3.0-Anwendungen ist es momentan noch eine sehr kleine, moderne und progressive, aber sehr zahlungskräftige Zielgruppe. Wenn wir diese Zielgruppe avisieren, dann ist das der richtige Ansatz. Technisch ist es aber noch schwierig umzusetzen, sowohl für den Benutzer als auch für Unternehmen. Es gibt viele Unklarheiten, die noch geklärt werden müssen. Aber es ist spannend, dass sich hier etwas tut, und wir müssen das ausprobieren und verstehen, wie die Mechanismen funktionieren. Damit wir das auch skalieren können und der großen Masse zukommen lassen können.
Das Auto wird immer mehr softwarebasiert. Du bist ein nachgefragter Experte für Web 3.0, was ja besonders relevant für Premium-Marken ist. Wie hast du dich in dieses Thema eingearbeitet, welche Trainings gibt es dazu?
Tim: Das wäre schön, wenn es dafür formale Trainings gäbe, Steffen. Das Thema betrifft alle Marken, und überall gibt es Experten, die sich in das Thema reingefuchst haben. Das Thema kam wie eine Welle und bewegt sich auch wie eine Welle. Es gibt immer wieder neue Entwicklungen, die wir genau betrachten müssen. Es gibt viel Bewegung, man muss ständig dranbleiben. Wo kann man da was lernen? Als ich angefangen habe, gab es 0,0 Bücher dazu. Man schaut sich einfach die Beispiele an, die draußen passieren, wie zum Beispiel bei den Marken Nike und Adidas. Und das war für mich der ausschlaggebende Punkt, dass ich gesagt habe, ich melde mich jetzt endlich auch mal bei LinkedIn an.
Ich hatte das Gefühl, ich war der Letzte, der noch nicht auf LinkedIn war.
Wann war das, Tim?
Tim: Ich habe mich vor etwa einem Jahr und vier Monaten angemeldet.
Und wie viele Follower hast du jetzt auf LinkedIn?
Tim: Ungefähr 25.000.
Wow, das ist ziemlich viel. Glaubst du, das liegt am Thema oder an der Community?
Tim: Ich denke, es ist eine Mischung aus beidem. Ich wollte mich ursprünglich mit anderen austauschen, die in ähnlichen Positionen wie ich sind, die auch bei einer Marke arbeiten. Es hat gut funktioniert und ich habe angefangen, mich tiefer mit dem Thema zu befassen. LinkedIn hat mir dabei sehr geholfen.
Und wenn du einmal drin bist und den richtigen Leuten folgst, und die richtigen Likes und Kommentare machst, verändert sich der Feed. Heute brauche ich nur noch LinkedIn aufzumachen, um über alles Aktuelle zum Thema informiert zu sein. Und dann kommt eins zum anderen. Wenn Du dann mal bei einem Podcast warst, dann wirst Du auch bei einem anderen eingeladen und dann kommen auch die Follower.
Also bist Du durch LinkedIn quasi zum Experten geworden. Du sprichst ja nicht nur auf Abteilungsebene, das geht ja bis auf Vorstandsebene.
Tim: Ja, am Anfang habe ich mir noch verschiedene Blogs gelesen, aber schließlich bin ich selbst in das Thema eingetaucht. Ich habe NFTs gekauft, verschiedene Wallets ausprobiert – man muss das alles erleben, um es wirklich zu verstehen.
Also, du hast auch selbst NFTs gekauft, bist auf Risiken eingegangen und hast nicht nur darüber gelesen.
Tim: Genau, ich denke, das ist unerlässlich, um über das Thema sprechen zu können. Du merkst schnell, wo es Probleme gibt. Sicherheit und Benutzerfreundlichkeit sind zum Beispiel große Themen.
Und Du tauscht Dich mit Deinem Netzwerk aus…
Tim: Stimmt, ich hab mittlerweile ein ziemlich großes Netzwerk von Leuten, die schon früh dabei waren. Und du kannst natürlich mit vielen Leuten sprechen. Ein guter Ort für Anfänger ist Discord, ein Chat-Tool, das aus dem Gaming kommt. Dort findest du viele Kanäle, in denen dir Leute bei Fragen zum Thema helfen können.
Discord ist ein tolles Tool für sowas. Aber ich muss zugeben, es ist immer noch ziemlich kompliziert. Wir sehen Marken wie Starbucks, die einen anderen Weg gehen, um den Umgang mit einer Krypto Wallet einfacher zu machen.
Manchmal haben wir das Bild, dass alles im Web 3.0 dezentralisiert sein und über die Blockchain laufen muss. Aber das ist vielleicht eher ein Idealbild oder eine Utopie. Es könnte auch sein, dass wir eher bei einem Web 2.5 landen, wo bestimmte Aspekte von Web 3.0 adaptiert sind, aber nicht alle. Weil so ganz auf die großen Player auch nicht verzichten kann. Die Butter werden sie sich auch nicht so einfach vom Brot nehmen lassen.
Die Hauptmerkmale von Web 3.0 sind Dezentralisierung, mehr Kontrolle über die eigenen Daten und Smart Contracts. Die Herausforderung ist, dass Web 3.0 gegen große Player, wie zum Beispiel Unternehmen antritt, die kommerzielle Interessen haben und viel Geld investieren können. Wie siehst du die Trends von Web 3.0 in der Automobilindustrie?
Tim: Das ist eine sehr komplexe Frage. Es hängt stark davon ab, wie einfach es in der Zukunft wird, mit Kryptowährungen zu arbeiten und wie bereit die Menschen sind, digitales Eigentum zu besitzen. Da tut sich einiges und es gibt große Player, die dieses Jahr etwas Großes vorhaben.
Und es gibt Entwicklungen wie KI, die das Ganze beschleunigen werden. Auch die möglichen Erfahrungen mit Augmented oder Mixed Reality von Apple sind sehr spannend. Wir können einfach nicht vorhersehen, was in einem Jahr sein wird. Vor einem Jahr kannte niemand ChatGPT und heute war es das Hauptthema auf der OMR (Deutschlands größte Marketingmesse mit ca. 75.000 Besuchern).
Und jeder versucht herauszufinden, wie man diese Tools richtig nutzt.
Tim: Genau, und jetzt werden überall “Prompt Engineers” eingestellt. Das ist ein Job, den es noch nicht so lange gibt, aber es zeigt, dass sich viel bewegt. Es ist wichtig, am Ball zu bleiben und zu sehen, wo wir aktiv werden können. Wir müssen nicht jeden Trend mitmachen, aber wir sollten einige davon ausprobieren und lernen, weil nur Abwarten meistens keine Option ist.
Ich glaube, was wir hier mitnehmen, ist, dass es immer wieder Themen gibt, zu denen es “0,0 Bücher” gibt. Social Media, Discord-Server und YouTube sind heute valide Quellen, um etwas zu lernen, das auch an der Spitze einer Industrie eine Rolle spielt. Und der beste Weg, um das Gelernte zu validieren, ist, es einfach auszuprobieren.
Tim: Du hast das gerade ausgezeichnet zusammengefasst. Die Quellen, die ich benutzt habe, sind für jeden zugänglich. Ich denke, das unterscheidet sich grundlegend von der Situation, die wir vor Jahren bei anderen Themen hatten. Damals mussten wir uns vielleicht tiefer in ein bestimmtes Gebiet einarbeiten, um den vermeintlichen Vorsprung, den andere vielleicht hatten, aufzuholen. Bei vielen neuen Themen existiert dieser Vorsprung allerdings nicht. Wenn du dich heute für eine Woche einschließt und alle Tools ausprobierst, bist du bereits gut aufgestellt.
Wenn du dich mal wirklich in ein Thema vertiefst, bist du wahrscheinlich auf dem gleichen Stand wie 95% der Leute, die darüber schreiben. Probiere Sachen aus, vieles ist kostenlos oder kostet fast nichts. Überleg, ob das für deinen Anwendungsbereich relevant ist. Werde kreativ! Wenn du was Interessantes findest, dann tausch dich aus. Bring deine Idee nach draußen. Was wäre, wenn dieses und jenes passieren würde? Der Austausch mit anderen ist ein tolles Tool, das wir früher nicht so nutzen konnten.
Nur zur Erinnerung: Wann hast du angefangen, dich mit Web 3.0 zu beschäftigen?
Tim: November 2021.
Okay, also ungefähr eineinhalb Jahre. Seitdem bist du anerkannter Experte in deinem Unternehmen und darüber hinaus, oder?
Tim: Ich würde mich nie als Experten bezeichnen, aber ich lerne ständig dazu. Wenn du Leute hast, die selber permanent lernen, dann kannst du einiges darüber erzählen. Und wenn dann meine Leute etwas von mir mitnehmen, freue ich mich.
Jeder kann dein Profil auf LinkedIn ansehen und sich eine Meinung bilden. Wie auch immer der Begriff lautet, alles Gute für deinen weiteren Weg. Ich bin gespannt, welche neuen Themen und Trends du in den kommenden Monaten entdeckst.
Tim: Ich bin auch gespannt.
Vielen Dank, Tim, für ein hervorragendes Interview
Tim: Vielen Dank, Steffen, es war ein tolles Gespräch.