SALN #29 Kipppunkte

SALN #29 – Der Kipppunkt eines Veränderungsprozesses.

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Die Umsetzung von absolut einleuchtenden Ideen ist lange häufig unmöglich.

Ist der Anfang gemacht, treten die ersten Hindernisse auf.

Zum Beispiel: Trotz erster Erfolge bezweifeln Mitarbeiter und Experten, dass die Autoindustrie erfolgreich transformiert werden kann. Die Fakten scheinen das zu bestätigen: Große Hersteller kämpfen mit ihren Software-Einheiten und der Verkauf von Elektrofahrzeugen stagniert bzw. bricht ein.

Doch die wenigsten signifikanten Veränderungen verlaufen linear.

Die Ideen und Konzepte existieren oft über lange Zeit. Und plötzlich verbreitet sich eine Idee wie eine Lawine.

Kann man eine solche Lawine auslösen?

Kipppunkt für lawinenartige Veränderungen

Kaum jemand kommt heute an Superfoods vorbei.

Chia, Kurkuma, Quinoa, Avocado und Blaubeeren sind jetzt regelmäßig in jedem Supermarkt zu finden. Vor 15 Jahren sah es noch anders aus. Obwohl schon seit Tausenden von Jahren die positive Wirkung dieser “Superfoods” bekannt ist.

Kipppunkt bei Superfoods
Der Kipppunkt bei Superfoods

Die Anzahl der Bücher mit dem Titel “Superfood” ist eine gute Möglichkeit, um den Trend zu veranschaulichen.

Bis zum Jahr 2000 war dieser Begriff weniger bekannt, erst seit etwa 10 Jahren haben sich “Superfoods” als ein Massenphänomen etabliert. Die gesundheitlichen Auswirkungen sind phänomenal.

Ähnlich ist es mit Meditation. Menschen meditieren seit 5.000 Jahren in Indien. Doch seit etwa 30 Jahren hat es sich in breiten sozialen Schichten im Westen durchgesetzt.

Kipppunkt bei Meditation
Kipppunkt bei Meditation

Möglicherweise wurde die Bekanntheit und Verbreitung von Meditationstechniken durch die Verbreitung von Smartphones, dem Wachstum von Social Media und damit auch dem Anwachsen unserer Bildschirmzeit befeuert.

Der ”Hockey Stick” ist frappierend.

Auch in den USA haben Technologiefirmen ähnliche Entwicklungen gezeigt. Ein Beispiel hierfür ist Amazon. Es hat 10 Jahre gedauert, bis die Idee, alles von Büchern bis hin zu Lebensmitteln bei Amazon online zu kaufen, sich durchsetzte.

Der Kipppunkt bei Amazon
Der Kipppunkt bei Amazon

Oft sind die Ideen schon sehr lange da. Und dann ändert sich plötzlich alles.

Ideen sind wie Viren, hochgradig ansteckend und in der Lage, die Welt um uns herum zu formen.

Irgendwann kommt ein Punkt, an dem sich die neue Idee rasch verbreitet.

Genau diesen Effekt wollen wir auch in Veränderungsprozessen nutzen.

In meinem ersten Job haben wir das so gemacht. Das Projekt war eine Beratung zum Aufbau eines Shared Service Centres. Die Mitarbeiter mussten neue Verträge mit einer Gehaltskürzung von ungefähr 20 % akzeptieren. Ihnen wurde eine einmalige Abfindung im fünf- bis sechsstelligen Bereich geboten. Ich wurde als Unterstützung für die Change Managerin zum Projekt hinzugezogen.

Das Projekt war legendär erfolgreich. Fast alle Mitarbeiter nahmen das Abfindungsangebot und die Gehaltskürzung an.

Mein Chef hat danach seine eigene Beratungsfirma gegründet und den Kunden für die nächsten 10 Jahre begleitet. Ich erhielt eine Beförderung nach einem halben Jahr im Job.

Der Abfindungsvorschlag war gut kalkuliert. Der Arbeitsmarkt in dieser Zeit bot kaum bessere Alternativen. Aber der entscheidende Faktor war unsere Change-Management-Strategie.

Wir haben uns auf die motivierten Mitarbeiter konzentriert, die 20–30 % ausmachen. Dadurch haben wir eine Dynamik angestoßen, in welcher die Kollegen sich gegenseitig überzeugten. Sobald sich ein Teil der Mitarbeiter für das Angebot entschieden hat, sind auch die anderen bald gefolgt.

Ein FOMO-Effekt.

Unser Auslösepunkt für die Lawine der Veränderung lag unterhalb der 20 %.

Don’t boil the ocean.

Veränderungen beginnen mit kleinen Schritten, mit dem Gewinnen der engagiertesten Mitarbeiter.

Die Mitarbeiter teilen sich grob auf in drei Gruppen: die Engagierten (etwa 30%), den Nicht-Engagierten (50%) und die innerlich Gekündigten (etwa 20%). Die Gründe hierfür sind vielschichtig, und gibt nachvollziehbare Gründe, wenn jemand nicht engagiert oder gar innerlich gekündigt ist.

Es ist logisch:

Alle Change-Maßnahmen werden effektiv auf die etwa 30 % Engagierten konzentriert.

Wird der Rest der Belegschaft ignoriert?

Im Gegenteil: Die Engagierten informieren, beeinflussen und überzeugen die Nicht-Engagierten. Die einen “stecken” die anderen an. Und so kann sich eine Idee, ein Konzept ausbreiten sich wie eine Epidemie: Wenn sie eine kritische Masse erreicht hat und die Kontextfaktoren stimmen, verbreitet sie sich exponentiell.

Wie die Gravitation scheint die epidemische Verbreitung einer Idee ein Naturgesetz zu sein.

Malcolm Gladwell hat 2000 ein Buch geschrieben. “The Tipping Point”. In unserem Shared Services Projekt haben wir ehrlich gesagt die Gesetzmäßigkeiten, die Gladwell beschrieben hat, konsequent angewandt.

Fokussiere die 20-30% Engagierten.

Selbst in Großunternehmen ist das Erkennen der Engagierten einfach. Unternehmen sind mit ihren Mitarbeitern vertraut. Mitarbeiter und Führungskräfte kennen ihre Kollegen. Eine einfache Überprüfung der Mitarbeiterlisten mit klaren Suchkriterien schafft schnelle Ergebnisse.

Engagement zeigt sich in der Leistung, der Einstellung und der Initiative. Das sind die Mitarbeiter, die eine positive Einstellung zum Wachstum haben und aktiv nach Rückmeldung suchen, mit ihren Ideen und ihrem Einsatz auffallen und bereit sind zu lernen und sich weiterzuentwickeln.

Gesucht werden:

  • die anerkannten Fach- und Prozessexperten,
  • die Vorschläge machen und Verbesserungen einführen,
  • die nach einer Gehaltserhöhung oder Beförderung fragen.
  • die bei Wind trotz Schwierigkeiten ins Werk/ ins Büro kommen.

Sie sind bekannt, sie haben sich einen Namen gemacht im Unternehmensnetzwerk.

Aber es sind nicht unbedingt Ja-Sager.

Ein engagierter Mitarbeiter muss nicht immer mit seinem Vorgesetzten übereinstimmen. Er kann sogar sehr kritisch sein und viele Fragen stellen. Denn er sucht die Herausforderung, er möchte lernen und Erfolg haben.

Und genau diese Mitarbeiter müssen für Veränderungen gewonnen werden.

Die Idee muss “anhaften” können

Natürlich muss die Idee auch überzeugen.

Sie sollte leicht verständlich und einfach zu merken sein. Die Informationen sollten aus glaubwürdigen Quellen stammen und überprüft werden können. Es ist wichtig, dass sie emotional relevant ist, damit die Idee des neuen Konzepts in den Köpfen der Menschen haften bleibt.

Botschaften im Business können super knifflig sein: Warum sollte ich etwas anders machen? Ging bisher auch so. Marketing- und PR-Experten können Ideen prägnant einfacher vermitteln. Sie haben das Handwerkszeug dafür.

Am Ende muss die Idee muss leicht erklärt und erinnert werden können.

Der Ansteckungseffekt

Die Engagierten inspirieren andere Menschen, auch diejenigen, die sich bereits innerlich abgemeldet haben. Die Engagierten überzeugen durch ihr Vorbild, ihr Netzwerk, ihre positive Einstellung und ihre Begeisterung.

Nicht nur Ideen sind ansteckend.

Es ist vor allem auch die Begeisterung und die Überzeugung von besonderen Menschen, die andere begeistern kann.

Die Dynamik der Verbreitung von Viren hat Malcom Gladwell gleichgesetzt mit der Verbreitung von Ideen.

Wird der “Tipping Point erreicht”, wird eine Lawine der Veränderung ausgelöst.

Genauso sind Superfood, Meditation und Amazon zu Supertrends geworden: eine kleine Gruppe von Fans, Engagierten und Interessierten haben den überragenden Nutzen für sich entdeckt. Von dort hat sich das lawinenartig durch die Welt verbreitet.

Genauso kann eine Veränderungslawine ausgelöst werden:

Die Idee, das Konzept muss “sticky” sein. Die Engagierten müssen identifizieren und fokussiert werden. Und dann müssen diese mit allen Maßnahmen durch die Change-Kurve begleiten: mit konsistenten Informationen, exklusivem Zugang zum Leadership, geeignete Trainingsmaßnahmen und Coaching.

Bis zu einem kritischen Punkt.

Dann wird die Lawine, das exponentielle Wachstum getriggert.

Und der Veränderungsprozess läuft.

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