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Die fetten Zeiten sind vorbei.
In guten, ertragstarken Zeiten haben deutsche Autohersteller und Zulieferer ihre Managementkapazitäten ausgebaut. Mit dem Schwenk zu neuen Technologien, wie elektrischen Antrieben und „software-defined vehicle“ haben diese Manager Strategien entworfen, umgesetzt, dann verworfen und erneut begonnen.
Währenddessen hat der Wettbewerb in China und USA uns technisch in den neuen Disziplinen ein- und überholt.
Fachliche und technische Fähigkeiten sind gefragt, um wettbewerbsfähig zu bleiben: Softwareentwicklung, Zellfertigung, neue Elektrik/Elektronikarchitekturen usw. Management Skills alleine scheinen diesen Technologiewechsel nicht schnell genug voranzubringen.
Heute spreche ich mit Ole Harms, CEO der VAIVA GmbH, ein Softwarezulieferer im Bereich Sicherheitstechnik. Zuvor war er Mitgründer und CEO von MOIA und hat bei der Gründung der CARIAD SE eine wesentliche Rolle gespielt.
Lass uns starten, Ole: Was ist denn dein Traumauto? Darüber haben wir noch nie gesprochen.
Ole Harms: Was würdest du denn denken? Also, ich habe zwei.
Ich könnte mir einen Samba-Bus vorstellen. Und als zweites einen Porsche, aber ich bin ich mir nicht so ganz sicher. Irgendwie noch etwas Sportliches als Zweitwagen.
Ole Harms: Also mein erster ist ein alter Porsche, der 911 Turbo des 930er Modells. Im Moment würde er halt leider nur in der Garage stehen. Und das andere hast du auch richtig gesagt: einen T1 Samba, allerdings elektrifiziert. Den hat VWN vor zwei drei Jahren mal aufgebaut mit einem Partner, E Classics, in orange. Ein Traum.
Zu unserem eigentlichen Thema: Was ist der Stand der Transformation in der Industrie? Wo stehen wir und wo geht es hin?
Ole Harms: Das ist eine gute Frage. Notwendigkeit und Zielrichtung der Veränderungen ist mittlerweile breit verstanden. Und zwar überall. Wirklich nahezu jeder kennt die Veränderungstreiber.
Wie ist der Status? Es ist schon zäh. Vom ersten Hackathon, den wir in Boston 2014 gemacht haben, über die Mobilitätspartnerschaft des VW-Konzerns mit Hamburg 2015, über verschiedene Geschichten zum autonomen Fahren, habe ich viel miterleben dürfen. Mein Eindruck ist: es geht halt sehr langsam voran. Und – die Adaptionsgeschwindigkeit in Europa ist sehr viel geringer als in den USA oder in China.
Denn Veränderung heißt auch, Sachen aufzugeben: ausmisten, ausräumen, wegschmeißen. Damit tun wir uns sehr schwer. Genauso damit, beherzt Dinge über einen längeren Zeitraum durchzuziehen. Wenn wir so auf die letzten Jahre schauen, sei es in der Politik, in der Wirtschaft oder ganz allgemein in Deutschland und Europa, dann geht es doch so: “Nach vorne! Nee, das stoppen wir jetzt wieder. Anderer Ansatz, Förderung hoch, Förderung runter. Solar rein. Solar raus.”
Es fehlen also a) die Geschwindigkeit und b) die Konsequenz.
Liegt das an den Menschen? Woran liegt das, dass USA und China schneller sind. Was können wir da ändern?
Ole Harms: Es hat schon etwas mit Einstellungen und mit kulturellen Einflüssen zu tun. Da müssen wir uns in Kerneuropa und in Deutschland auch einfach mal selbst in den Hintern treten. Mehr Leistungsbereitschaft zeigen und mehr ausprobieren. In meiner Einschätzung behindert uns ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken zu oft.
In vielen anderen Ländern passiert mehr. Es entsteht viel Neues. Wir sollten uns die Frage stellen: Können (und sollten) wir überhaupt alles transformieren? Was kann man hinüberretten in die neue Zeit und welche Bereiche müssen komplett neu entstehen? Neue Formate, neue Firmen, neue Technologien, neue Produkte?
Natürlich sind hier Risiken einzugehen. Neues kann floppen. Aber es gibt keine Alternative dazu, beherzt zu sein. Wenn du etwas nur halbherzig machst, dann fehlt Fokus, Mut und Ausdauer.
Davon scheint es in anderen Regionen mehr zu geben.
Wir haben jede Menge gut ausgebildete Menschen. Und wir haben Institutionen, die dafür sorgen, dass Leute ausgebildet werden, dass wir forschen, dass wir entwickeln. Man sollte eigentlich meinen, dass die Voraussetzungen, um etwas zu schaffen, doch sehr gut sind.
Wenn wir das Wegwerfen auf die Autos beziehen, ist es ein Fakt, dass man derzeit mit dem Verbrennungsmotor immer noch gutes Geld verdienen kann. Also was sollten wir denn dann lassen? Erfolg leitet dich ja auch.
Ole Harms: Ich weiß nicht, ob jetzt die Analogie mit dem Weglassen zu der Frage Verbrenner oder Elektro passt. Mir geht es hier eher um die Vorgehensweisen.
Wir müssen einiges loslassen von dem, was uns in der Vergangenheit erfolgreich gemacht hat. Geht es z.B. um Software oder die Überarbeitung der Wertschöpfungskette bzw. der Wertschöpfungstiefe im Hinblick auf Batterie-/ Zelltechnologie, dann können wir das nicht mit dem Denken der Vergangenheit machen.
Die Vorgehensweisen der Vergangenheit sind nicht schlecht. Aber sie taugen nicht als Referenz bei den neuen Themen. Die muss man ganz anders aufsetzen. Das Software Defined Vehicle ist gerade in aller Munde: Erst die Software, dann das Auto. Das sagt sich einfach. Aber das musst du dann halt auch machen. Du musst dann halt auch wirklich komplett dein Operating Model so aufsetzen. Von Anfang an. Und nicht versuchen, etwas Bestehendes zu tunen, hier etwas reinzubauen, da etwas anzuflanschen.
Wir brauchen ganz oft einfach mal ein weißes Blatt Papier, auf dem man neu anfängt und sich zutraut, etwas von Grund auf zu entwickeln, dabei zu lernen, anzupassen. Und nicht gleich in den Mechanismus verfallen: “Ach verdammt, wir haben gar keine Referenz. Wie machen wir das denn jetzt? Auf welcher Basis sollen wir denn entscheiden? Komm, jetzt gucken wir doch mal, wie das andere in der Vergangenheit gemacht haben und pressen das dann in unsere Entscheidungsstrukturen. Dann sind wir gut abgesichert.”
Du bist in einem dieser Zukunftsfelder unterwegs: Software, Sicherheit, Entwicklung digitaler Produkte. Und du bist verantwortlich für Mitarbeiter. Was brauchen die Menschen, um diesen Wandel erfolgreich zu machen?
Ole Harms: Es braucht die richtige Umgebung. Es braucht ein Umfeld, in dem Experten wirken können. Und zwar schnell, effektiv und ohne Kompromisse.
Höhere Unternehmensgeschwindigkeit.
Ole Harms: Genau. Punkt eins ist die Vermeidung von sinnlosen Diskussionen, Schnittstellen und Entscheidungswegen. Entscheidungskompetenz und Umsetzung müssen auf die niedrigstmögliche Stufe gepackt werden, zu den Experten.
Der zweite Punkt ist die Förderung von Expertentum. Entweder holst du Experten vom Markt oder du bildest sie selbst aus. Durchschnittlichkeit, Mittelmäßigkeit, “okay” Kompetenzen – dafür ist kein Platz mehr.
Gleichzeitig müssen vorhandene Chancen, Potentiale ausgeschöpft werden: Jeder Mensch möchte sich weiterentwickeln. Dort kannst du Angebote schaffen. Aber gleichzeitig einfordern, dass die Mitarbeitenden sich weiterentwickeln, und tiefe Expertise aufbauen auf allen Ebenen.
General Management ist überbewertet in einer solchen Umgebung. “Ich bin ein guter Manager, ich kann alles, ich kann Teams führen, ob die nun Schiffe bauen oder Fahrräder…”. Das ist vorbei. Das funktioniert nicht mehr.
Das Dritte ist kontinuierliches Lernen. Die Transformation hört nicht auf und wird sogar immer schneller. Und deswegen ist Lernen so wichtig. Und Lernen bedeutet nicht: “Lese ein Buch und lerne es auswendig.” Sondern: Etwas tun, verstehen, was funktioniert und was nicht. Dann anpassen, weitergehen, mehr verstehen, weiter anpassen, und das immer wieder. In diesem Sinne „Produktives Lernen“ funktioniert allerdings nicht, wenn ich einen einmal eingeschlagenen Weg immer wieder (vor)schnell in Frage stelle, abbreche und eine neue Richtung verfolge.
Diese drei Sachen sind also wichtig: Das richtige Umfeld, die richtige Expertise und dann konsistent lernen. Wie alt ist Nvidia jetzt? 30 Jahre. 30 Jahre arbeiten sie stringent und entwickeln sich kontinuierlich weiter. Jensen Huang, einer der Gründer, ist heute noch CEO. Tolle Technologien und ein wettbewerbsüberlegenes Geschäftsmodell zu bauen, braucht halt auch seine Zeit. Jetzt ist Nvidia eines der wertvollsten Unternehmen der Welt.
Wie sieht eine ideale Lernumgebung aus?
Ole Harms: In einer idealen Lernumgebung ist Lernen gewünscht und nicht negativ konnotiert, so nach dem Motto: “Wieso lernst du denn noch? Wieso kannst du das nicht schon?”
Zuallererst muss Lernen als Kernessenz von Entwicklung wahrgenommen werden.
Das nächste Thema ist die vielzitierte (aber oft nicht wirklich gelebte) Fehlerkultur: Fehler machen und aus Fehlern lernen. Eine Fehlerkultur erzeugt ein Umfeld, in dem man sich ausprobieren kann, ohne einen 10-Jahres-Businessplan aufzustellen. Eine gewisse Robustheit in der Begründung von z.B. neuen Produktansätzen braucht es natürlich, aber hier wird häufig übertrieben.
Machst Du Fehler, stellst du eben auch fest: “Verdammt, ist nichts geworden. Aber ich habe Folgendes gelernt: Wir sollten das so und so tweaken und dann wird es beim nächsten Mal gehen.” So funktioniert Lernen, so entsteht Innovation.
Wenn du aber vorher, bevor du etwas ausprobierst, 8 Wochen Business Cases machst, dann wird das nichts. Das meine ich mit Vorgehensweisen von früher. Dann findet das Lernen nicht statt.
Experten haben Erfahrung, ganz klar, und auch ein gewisses Grundwissen. Wie schafft ihr das bei VAIVA, dieses Grundwissen zur Verfügung zu stellen?
Ole Harms: Zum Ersten ist es Empowerment der Führungskräfte. Also erst einmal die Führungskräfte selbst in ihren Führungsrollen entwickeln. Zum Beispiel zu hinterlegen, dass Lernen und persönliche Weiterentwicklung ein massiver Führungsauftrag sind. Wir haben z.B. letztes Jahr eingeführt, dass alle Mitarbeitenden einen verbindlichen Entwicklungsplan erhalten, auf den man mehrmals im Jahr gemeinsam schaut und gegebenenfalls nachsteuert oder ergänzt.
Das Nächste ist, dass wir aktiv Angebote schaffen wollen, die den Leuten eine Horizonterweiterung ermöglichen. Top-Konferenzen, coole Trainings im internationalen Kontext mit Peer Groups, Teilnahme an Meetups, die in der Szene stattfinden. Wir haben einen Corporate Account bei Udemy für alle Mitarbeitenden, hier kann man selbst sehr kreativ aktiv werden. Aber wir haben auch unsere Austauschformate, z.B. unser „Talk, Meet, Eat“, zu dem wir immer wieder interessante Leute einladen. Zum Beispiel einen Professor, mit dem wir das Metaverse und dessen industrielle Anwendungsmöglichkeiten tiefgehend beleuchteten. Gerade kürzlich hatten wir eine interne Abendveranstaltung zu einer Produktidee, die wir gerade evaluieren und konnten hier im breiteren Rahmen (und in entspannter Atmosphäre) tief inhaltlich diskutieren, Ideen vergemeinschaften.
Es gibt Menschen, die aktiv an jedem Lernangebot ziehen.
Und es gibt einen großen Teil, den du ein bisschen anstupsen musst. Frei nach Saint-Exupéry: “Wenn du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zusammenzusuchen und die Arbeit zu verteilen, sondern erwecke in den Herzen der Menschen die Sehnsucht nach dem großen weiten Meer”.
Geh mal auf eine Developers Conference. Geh mal auf Autonomous Meetup und du wirst so angezündet, dass du denkst: “Oh geil, damit muss ich mich ja auch mal beschäftigen. Was bedeutet denn das hier genau? Ja, das gucke ich mir jetzt mal an, da möchte ich mal tiefer gehen: Wo gibt es ein Training?”
Es geht um beides, die Möglichkeit zu bieten, und deswegen investieren wir da auch. Auf der anderen Seite musst du aber auch dazu anhalten, dass die Möglichkeiten auch wahrgenommen werden.
Ein weiteres wichtiges Element: Wir haben sogenannte Principals. Sie sind unsere fachlichen Senior-Experten und die haben auch einen Ausbildungsauftrag. Sie bringen also nicht nur ihre Themen voran, sondern verankern diese auch nachhaltig in der Organisation und schulen intern.
Ich höre bei dir zwei Grundtendenzen, um Lernen zu fördern: Das eine ist soziales Lernen: man lernt tatsächlich am schnellsten von dem anderen, auf dem Kongress, von anderen Fachkollegen, vom Principal. Das Zweite ist “Discovery”: dass du Dinge entdeckst, eine Tür aufmachst und schaust, was dahinter ist. Also diese Neugierde im Menschen antriggerst und eine Motivation kreierst.
Ja das passt ganz gut.
Nehmen wir an, Du könntest einen Brief schreiben, Ole an die Olas und Olivers der Autowelt und auch die CEOs der Zulieferer. Was würdest du denen mitteilen wollen?
Ole Harms: Erstmal würde ich keinen Brief mehr schreiben, das Thema ist lange durch. Zweitens maße ich mir aber natürlich auch nicht an, mich hier als Einflüsterer aufzuspielen. Das sind alles hochkompetente Leute, umgeben von vielen Ratgebern und Sparringspartnern.
In einem persönlichen Gespräch würde ich dafür werben, mutig einen Weg einzuschlagen und den auch dann weiterzugehen, wenn der Wind von vorne weht.
Und er wird weiter schroff von vorne wehen. Die nächsten Jahre werden in unserer Industrie mit Sicherheit kein Zuckerschlecken.
Technologien und Unternehmen entwickeln sich in den bekannten S-Kurven. Da geht es um kontinuierliches Lernen, am Ball bleiben. Wir müssen uns die langfristige Wettbewerbsfähigkeit erarbeiten, Simon Sinek nennt das ‚Playing the Infinite Game‘. Da liegen einige Jahre an Arbeit vor uns, wir haben einiges aufzuholen, gerade in dem ganzen Bereich Softwaretechnologien und Wertschöpfung.
Wir haben aber auch gute Voraussetzungen dafür. Du hast es schon angesprochen: Know how, tiefes Wissen, hohe Bildung usw. Aber das wird eben nur etwas, wenn man den Weg konsequent ein paar Jahre geht. Wirklich ein paar Jahre geht. Und wenn man mal in eine Grube fällt, dann muss man sich halt schütteln, geht 3 Meter zur Seite und dann trotzdem weiter. Und stellt nicht wieder alles in Frage, sondern geht einfach weiter. Das ist das erste: diese Konsequenz.
Das zweite ist, während man geht: Ausräumen. Wegschmeißen. Abschneiden.
Nicht den großen Rucksack schleppen, damit man auch mal in die Höhe kommt.
Ole Harms: Vielleicht ist das das Bild. Du gehst eine lange Strecke mit einem schweren Rucksack. Du wirst fitter. Du nimmst aber auch Sachen aus dem Rucksack raus, damit du weiterkommst. Ja, und dann ist es am Ende wirklich ein Fitnessprogramm. Was aber Jahre dauert und vor allem auch nur geht, wenn man sich nicht permanent geißelt im Sinne von: “Oh verdammt, jetzt haben wir einen Zug verpasst und wir sind jetzt nächstes Jahr ja nicht mehr Erster – wir müssen alles infrage stellen.” Es geht für mich nicht darum, in 2-3 Jahren in irgendwelchen neuen Technologien oder Wertschöpfungsbereichen „der oder das Beste“ zu sein.
Das Ziel ist langfristige, erfolgreiche Marktteilnahme und dafür sind beherzt und nachhaltig die Voraussetzungen zu schaffen, die notwendigen Fähigkeiten zu etablieren.
Wenn es die Möglichkeit gäbe, dann hätte ich Lust drauf, dass mal bei einem Glas Rotwein mit dem einen oder der anderen zu diskutieren.
Danke, Ole, für ein tiefes und unterhaltsames Gespräch.